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Thomas Hirschhorn###Wirtschaftslandschaft Davos, 2001

Wirtschaftslandschaft Davos ist vor 10 Jahren entstanden, anlässlich des Preises der Zürcher Kunstgesellschaft an Thomas Hirschhorn. Damals war das Werk im Zürcher Kunsthaus erstmals zu sehen und wurde als Neuankauf 2011 in Aarau zum zweiten Mal ausgestellt. Die Arbeit ist ein Meilenstein in Thomas Hirschhorns Schaffen und es ist bedeutend, dass sie für eine öffentliche Schweizer Sammlung gesichert werden konnte. Dies wurde dank einem massgeblichen Beitrag der Eidgenössischen Kunstkommission, des Aargauer Kunstvereins und weiterer Geldgeber möglich.

Wirtschaftslandschaft Davos ist ein überwältigendes Werk. Die ausufernde, begehbare Skulptur besteht aus verschiedenen Bereichen: der zentralen Modelllandschaft des winterlichen Davos, einem Rundgang mit Archivmaterialien, einem Podest mit Originalwerken von Ernst Ludwig Kirchner und Hermann Scherer und einem Kinosaal, in dem Rolf Lyssys Film Konfrontation von 1975 gezeigt wird.

Mit der Schilderung einer Berglandschaft ist die Arbeit eingebettet in ein grosses Thema der abendländischen und speziell der Schweizer Kunst. Die alpine Landschaft ist ein Motiv mit grosser Tradition − auch in der Aargauer Sammlung −, die von Caspar Wolf über Ferdinand Hodler bis zu Balthasar Burkhard reicht. Bei Thomas Hirschhorn geht es aber nicht um die unberührte Natur, denn die Landschaft interessiert ihn als sozialer, politischer, ökonomischer Raum, als Bühne für den Menschen und die Zivilisation: Die Landschaft Davos wird in all ihren Facetten und als Ort voller Gegensätze dargestellt. So thematisiert der Künstler beispielsweise den historischen Kurort, der Thomas Mann als Kulisse für seinen 1000-seitigen Roman Der Zauberberg diente, oder Davos als beliebte Tourismusstation und Heimat des HC Davos. Die Region war während rund 20 Jahren auch der Wohn- und Schaffensort von Ernst Ludwig Kirchner. Seine Bilder prägen unsere Vorstellung der Prättigauer Landschaft und Schweizer Künstler, vornehmlich aus Basel, pilgerten zum Deutschen Expressionisten und wurden seine Schüler. So auch Hermann Scherer. Thomas Hirschhorn bindet diesen Aspekt in seine Arbeit ein, indem er Originalwerke von Kirchner und Scherer auf geschickte Weise eingliedert.

Alle angesprochenen Themen und viele mehr integriert Thomas Hirschhorn in seine Wirtschaftslandschaft Davos, indem er eine Fülle von Materialien, Texten, Bildern oder Büchern ausbreitet und die Betrachtenden einlädt, sich in die Materie zu vertiefen. Mit dem Film von Rolf Lyssy kommt ein weiteres Thema dazu, nämlich die dunklen Spuren, die der Nationalsozialismus in Davos hinterlassen hat. Es war Rückzugsort und Kurort für Menschen verschiedenster Couleur, so auch für NSDA-Gauleiter Wilhelm Gustloff, der dann − wie im Film geschildert − dort erschossen wurde.

Thomas Hirschhorn zeigt Davos im Winter und zwar während der Austragung des World Economic Forums. Der Ort ist unter Belagerung, in einem Ausnahmezustand. Polizei- und Militärkräfte sind in Position gebracht um das Treffen der Mächtigen dieser Welt vor Attacken zu schützen. Ein riesiges Spektrum an ungelösten Fragen trifft aufeinander, die Gegensätze der Welt begegnen sich. Davos wird zur Bühne der Weltkonf likte und damit zur Hochsicherheitszone.

Was die Stärke von Thomas Hirschhorns Arbeit ausmacht, ist seine Gabe, die Dinge nie zu vereinfachen. Es geht ihm nicht um klare Statements, nicht um ein «auf den Punkt bringen». Diesen «Punkt» entlarvt er als Fiktion. Er zeigt die Themen auf in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit und darin besteht die Herausforderung für die Rezipienten seiner Arbeit. Wir müssen eintauchen, uns auseinander setzen. Der Künstler klagt an, zeigt auf, bietet aber keine Lösungen an. Darin liegt die Provokation und die Verunsicherung, die sein Werk auslöst. Er mischt sich ein, zeigt seine Befürchtungen, stellt sich gegen die Gleichgültigkeit. Und er lässt uns teilhaben an diesem Prozess. Thomas Hirschhorn schafft mit seiner Arbeit eine Plattform, ein Feld, das als Ort der Konfrontation und des Dialogs angelegt ist. Die Arbeit ist genauso komplex und schwierig wie es unsere Welt auch ist.